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links: Akzidenz Grotesk, rechts: NB Akademie

Stefan Gandl im Interview

1880 schneidet der deutsche Schriftgestalter Ferdinand Theinhardt die Royal Grotesk für die Publikationen der „Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin“. 2016 veröffentlicht der Grafikdesigner Stefan Gandl die Neubau Akademie: Durch Theinhardt beeinflusst entwickelt er eine Neuinterpretation der Royal Grotesk für Print und Web.

Holly: 1898 taucht die Royal Grotesk das erste Mal auf, als Quelle für die Akzidenz Grotesk in der Schriftgießerei von Hermann Berthold. 1908 übernimmt Berthold die „Ferd. Theinhardt Schriftgießerei Berlin“ und integriert die Royal Grotesk in die Akzidenz-Grotesk-Familie. Erst in den 1950er Jahren erfolgt jedoch der große Durchbruch. Nach einer Überarbeitung von Günter Gerhard Lange, Bertholds Kreativdirektor, wird die Akzidenz Grotesk neben der Helvetica zur meist genutzten Serifenlosen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie erklärst du dir diesen späten Erfolg der Akzidenz Grotesk?

Stefan: Die Akzidenz war seit ihrer Verfügbarmachung als Bleisatz durch die Berliner Schriftgießerei Berthold im Jahr 1896 ein Riesenerfolg. Der Auftrag zum Ausbau der Schriftfamilie durch G. G. Lange in den 1950ern war ein Resultat des Erfolgs. Dass die Akzidenz durch ein erweitertes Angebot an Schriftschnitten noch mehr Einsatz fand und damit auch in den 1950er und 60er Jahren weltweiten Erfolg feierte, war nur eine logische Konsequenz und erklärt vielleicht den Eindruck eines „späten“ Durchbruchs. Tatsächlich ist es aber die Fortsetzung einer Erfolgsgeschichte, die bereits Anfang des 20 Jahrhunderts begann.
Die Schriftgießerei Haas wollte genau aus diesem Grund, und um mit der Berthold AG konkurrieren zu können, in den 1950ern eine eigene erfolgreiche Groteskschrift – wie die Akzidenz – herausbringen und hat Max Miedinger mit der Entwicklung der Haas Grotesk beauftragt, die dann schließlich als umbenannte Helvetica populär und weltberühmt wurde. Die Royal Grotesk hingegen war wirklich eine revolutionäre Schrift, wenn man bedenkt, dass bis zu dem Zeitpunkt der Erstveröffentlichung fast ausschließlich Serifenschriften für Lesetexte in Publikationen verwendet worden waren.
1880 wurde Theinhardt vom Preußenkönig Wilhelm I. beauftragt eine eigene Schrift für die Publikationen der „Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin“ zu entwickeln. Theinhardt kommt ausgerechnet mit einer serifenlosen Schrift daher, der Royal Grotesk, einer vollkommen schnörkellosen, schmucklosen Schrift, und macht dadurch die Grotesk-Schrift erstmalig als Leseschrift salonfähig. Theinhardt hat mit der Royal Grotesk den Weg bereitet für den späteren Erfolg von Akzidenz, Helvetica, Univers und andere. Theinhardt war Avantgarde, seine Royal Grotesk eine Revolution.

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H: Jahr für Jahr erscheinen zahlreiche neue Groteskschriften. Du selbst sprichst davon, dass die Akzidenz Grotesk „the godmother of all modern grotesque typefaces“ ist. Was macht sie so reizvoll und woher kommt der momentane Boom zu den Serifenlosen?

S: Habe ich das gesagt? Denkst du, es gibt wieder einen Boom zu Serifenlosen? Ich verfolge das nicht, für mich sind Serifenlose – seit dem ich an der „Graphischen“ (Hochschule Wien, Anm. d. Red.) war – immer präsent und in der Anwendung zeitgemäß gewesen. Was mich an der Akzidenz Grotesk und neben dem Bezug zu Berlin reizt ist, dass sie mehr Charakter hat als viele andere moderne Grotesk-Schriften. Sie sieht zwar auf den ersten Blick klar und nüchtern aus, aber wenn man genauer hinsieht, dann hat sie ihre Eigenheiten. Genau diese kleinen Macken machen für mich den Charme aus.

H: Wie kam es zur Neubau Akademie?

S: Begonnen hat alles mit einem Experiment und damit, dass ich 2006 die Akzidenz Grotesk auf Proportionen untersucht und sowohl das Verhältnis zwischen x-Höhe zu Versalhöhe als auch die unterschiedlichen Glyphenbreiten existierender Schnitte ermittelt hatte. Aus dieser Untersuchung und der daraus entwickelten Formel habe ich zunächst mein sogenanntes Diamantraster entwickelt und darauf aufbauend ein Skelett für ein geometrisch konstruiertes Alphabet formuliert.
Für 2008 war dann die „Neubauism“-Ausstellung in Eindhoven angekündigt, der erste Werküberblick des Studio Neubaus, wofür ich eine eigene Schrift bauen wollte, die mal keine reine Displayschrift ist, sondern vor allem als Textschrift funktionieren sollte. Bis zu diesem Schriftexperiment galt bei Neubau die Regel: eine Schrift pro Tag/Nacht. Schriftproduktionen, die länger dauerten, wurden sofort verworfen. Diese Faustregel galt bis ca. 2005. Für die „Neubauism“-Ausstellung ist dann die Neubau Grotesk entstanden. NB Grotesk ist das ungeschmückte Resultat eines Spiels mit sich innerhalb eines rigiden Rasters wiederholenden modularen Elementen. Bei der NB Grotesk wurden keine optischen Korrekturen zugelassen; die Horizontalen sind genauso dick wie die Vertikalen. Die NB Grotesk sieht deshalb teilweise optisch unausgewogen aus, da durch die gleichbleibende Strichstärke die Querbalken viel schwerer wirken als der Rest. Genau diese optische Ungeschliffenheit und der geometrisch konstruierte Charakter macht dabei jedoch die Besonderheit dieser Monoline aus, die 2008 im Neubauladen erschienen ist.
Da das Experiment erstaunlich gut funktioniert hat und die NB Grotesk auch Dank der „Neubauism“-Publikation sehr erfolgreich wurde, war das Konzept zur Nachfolgeschrift eine logische Konsequenz: Neubau International ist eine Schrift basierend auf dem gleichen Raster wie die NB Grotesk, jedoch mit optischen Korrekturen in Formgebung und Gestalt.
Die Typografie und das Grafikdesign der späten 1950er und 60er Jahre, als der „International Style“ die Welt eroberte, standen sinngemäß für Form- und Namensgebung Pate. Die Eckrundungen der Glyphen von fünf bzw. zehn Einheiten sind eine optische Referenz an den Bleiletterndruck jener Zeit. NB International wurde erstmals für die im Jahr 2014 bei Lars Müller Publishers erschienene „Neubau Forst Catalogue“-Publikation verwendet und noch im selben Jahr als OTF-Pro-Schriftsystem veröffentlicht. Die Schriftfamilie umfasst heute neun Schriftschnitte.
Erst auf Basis der NB International habe ich dann die Neubau Akademie entwickelt. Bei der NB Akademie sollte der lokale Berlinbezug noch stärker herausgearbeitet werden. Zurück zu den Wurzeln. Ich wollte ausprobieren, ob ich die Royal Grotesk aus dem Gedächtnis zeichnen und auf das bereits existierende Gerüst des Schriftsystems der NB International anwenden kann. Das schließlich im Jahr 2016 veröffentlichte Schriftsystem der NB Akademie umfasste dann 20 Schriftschnitte.

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H: Wie verlief der Gestaltungsprozess? Viele Schriftdesigner haben besondere Vorlieben für bestimmte Buchstaben oder typografische Merkmale. Welche Charaktereigenschaften waren dir bei der Entwicklung besonders wichtig?

S: Die Entwicklung von der NB Grotesk über NB International zur NB Akademie ist die Loslösung vom strengen Raster hin zu einem ästhetisch betonten Konzept. Mit der NB Akademie wollte ich eine Berliner Schrift entwickeln, eine zeitgemäße Grotesk-Schrift mit Charakter, die jedoch moderat in der Linienführung ist und nicht allzu kontrastierende Lettern besitzt.
Der überwiegend klare Charakter der NB Akademie schließt auch bestimmte Eigenheiten nicht aus. So zum Beispiel das zweistöckige gemeine g in den Kursiven oder aber die Größe des i-Punkts. Dieser ist ein paar Einheiten größer als der Stamm, das irritiert manche Puristen. Der vergrößerte i-Punkt ist aber dem Umstand geschuldet, dass bei vielen Schriften der i-Punkt in kleinen Schriftgraden optisch zu klein ausfällt oder sogar wegbricht. Typisch bei der NB Akademie sind auch die schrägen Endungen als Referenz zur Royal Grotesk. Bei der NB International verlaufen die Endungen noch horizontal bzw. vertikal.

H: Die NB Akademie ist auf eurer Website auch als Memory-Spiel sowie als limitierte Specimen-Box, als Schriftmuster-Box mit Postkarten, Buttons, einem Folder mit Specimen-Broschüren plus Typometer verfügbar. Wie sehr spielt das physische Werk in deiner Arbeit als Schriftgestalter eine Rolle? Ist es für dich hierbei um so wichtiger, auch Druckerzeugnisse zu entwickeln?

S: In einer mehr und mehr digitalisierten Welt spielt das Taktile für mich eine sehr große Rolle. Ich glaube, dass meine Letraset-Erfahrung als Kind ebenfalls ganz wesentlich und prägend für mich war. Ich habe immer noch einen ganzen Schrank voll mit Letraset-Bögen. Gerade heute, wo vieles durch die Digitalisierung entmaterialisiert ist, gewinnt das physische Erlebnis eine neue Bedeutung. Bücher, Plattencover und CD-Hüllen waren unter anderem der Grund, weshalb ich Grafikdesigner geworden bin. Ich rieche, greife und fühle Dinge gerne. Mit Schrift ist es genauso. Schrift ist tot, wenn man sie nicht anwendet und inszeniert. Spezielle Projekte benötigen spezielle Schriften. Ich baue Schriften nur, um sie auch selbst einsetzen zu können. Deshalb landen sie bei mir auch auf dreidimensionalen Produkten.

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H: Kannst du mir mehr über den NB Akademie Testsatz 1–26 erzählen?

S: Das Schöne an der Specimen-Box ist die Materialität vom Leinen, der Siebdruck der darauf steht und der Geruch von Buchbinderleim und Farbe. Wer den Testsatz 1–26 besitzt, erfährt wie die Schrift in all ihren unterschiedlichen Größen funktioniert und mit den unterschiedlichen Materialien reagiert. Die verschiedenen in der Testsatz-Box versammelten Drucksorten und Objekte zum Thema Neubau Akademie sind exemplarische Anwendungsbeispiele des Schriftsystems NB Akademie in verschiedenen Drucktechniken (Siebdruck, Offset, Laserdrucker) auf unterschiedlichen Bedruckstoffen. TS 1–26 ist eine Erlebnisbox zum Studieren. Bei der NB Akademie hat sich das Spielerische ohnehin aufgedrängt: Ein Spielkasten, in dem sich Broschüren oder aber auch dieser Zollstab in Form eines Zimmermannstifts befinden. Außerdem gibt es eine NB-Akademie-Flagge. Da das korrekte Falten von Fahnen nicht so einfach ist, liegt auch eine Faltanleitung bei, gesetzt in 32, 16 und 8 Punkt der NB Akademie.
In der Specimen-Box befindet sich auch die sogenannte Akademische Gruppenübung (Group Exercise, ein Gedächtnisspiel) mit Glyphenpaaren aller 20 Schriftschnitte der NB Akademie, gedruckt auf quadratische Kartonkarten. Auch bei der Spielanleitung zur Akademischen Gruppenübung ist das Schriftsystem exemplarisch angewendet, gesetzt in sechs Punkt Akademie Regular. Meine Kinder spielen die Gruppenübung total gerne, nicht nur weil sie mich meist darin schlagen. Es ist das einzige Spiel, mit dem ich sie vom iPad wegbekomme. Die Gruppenübung kann man entweder ganz klassisch spielen, indem man gleiche Glyphenpaare findet, oder man spielt im Expertenmodus und muss den jeweiligen Schriftschnitt erkennen. Das wunderbare Key Visual zur GE-100, der Group Exercise 100, wurde übrigens in Zusammenarbeit mit dem Berliner Fotografen Mika Ceron entwickelt.

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H: Wo können 360×325×90 mm große, siebbedruckte, Leinen-Specimen-Boxen produziert werden?

S: Die großen grauen Leinenboxen wurden hier im Neubau Studio in einer Auflage von 26 Stück (+10 AP) gefertigt. Das Buchbinden war eine herrliche Abwechslung und hat mir großen Spaß gemacht. Jens-Uwe Claus von der Berliner Handsiebdruckwerkstatt shining-labor hat sowohl die Testsatzboxen als auch die Versandboxen, die Verpackung und die Inhalte der Spielsets zur Akademischen Gruppenübung bedruckt.
Die GE-100-Boxen wurden in Zusammenarbeit mit der Berliner Firma Fapack entwickelt und gefertigt. Im Zuge der Recherche nach dem richtigen Produktionspartner bin ich auf Fapack gestoßen; sie haben für Wes Andersons Film „Grand Budapest Hotel“ die legendären Mendels-Boxen produziert. Fapack bietet für individuelle Lösungen auch aufwendige, aber bezahlbare Kleinstauflagen an. Die Fabrik befindet sich seit ihrer Firmengründung 1869 in der Sonnenallee in Berlin, also nicht weit vom Neubau-Studio entfernt. Die Zusammenarbeit mit Fapack war großartig. Ich habe den Mitarbeitern meinen Prototypen gezeigt, der genauso aussah wie die finale, in Handarbeit gefertigte und auf 100 Stück limitierte GE-100-Box. Die Mitarbeiter von Fapack haben sofort verstanden, wie die Box produziert werden muss und ein perfektes Endprodukt hergestellt.

H: Neubau Akademie TS 1-26 enthält auch einen Text mit dem Titel „Neubau Akademie. Historische und soziokulturelle Kontextualisierung einer Groteskschrift“ von Dr. Gunnar Klack. Wie kam es dazu?

S: Thematisch passend zur Neubau Akademie wollte ich keinen sinnentleerten Schmucktext für die Schriftmuster, sondern einen wissenschaftlichen Beispieltext, der sowohl in der exemplarischen Anwendung der Schrift als auch inhaltlich funktioniert.
Gunnar Klack ist studierter Architekt und hat als Autor unter anderem für die Spex und die Berlinische Galerie gearbeitet. Einer meiner Mitarbeiter hat mich auf ihn aufmerksam gemacht. Gunnar ist wirklich ein Phänomen. Er war für das Essay-Briefing ganze 30 Minuten hier, ich habe ihm einen kurzen Überblick zu meinen Schriften gegeben und vom Entwicklungsprozess der Akademie erzählt.
Obwohl Gunnar zunächst überhaupt nicht typoaffin war, hat er sofort die Essenz verstanden. Nach drei Wochen kam er mit einer fundiert recherchierten 20-seitigen Abhandlung zurück und es stellte sich heraus, dass Gunnar in den Archiven diverser Berliner Akademien war und bei seiner Recherche unter anderem die Originalunterlagen von Theinhardt studiert hat. Gunnar hat mit „Neubau Akademie. Historische und soziokulturelle Kontextualisierung einer Groteskschrift“ eine themenbezogen kritische Auseinandersetzung mit der Schrift in Form einer akademischen Arbeit beigesteuert. In Ergänzung dazu haben wir uns den Spaß erlaubt, ihn als Autor für die akademische Schriftmuster-Publikation mit samt seinem Doktortitel abzudrucken — ganz im Sinne der Tradition wissenschaftlicher Abhandlungen.